Das schlechte Gewissen

Ich tippe auf ein typisch westliches Gefühl; dieses nagende schlechte Gewissen, wenn man nichts „Nützliches“ tut, denn ich glaube nicht, dass dies ein universales Gefühl ist, jedefalls nicht in dem Ausmass.

Ich habe das und ich hasse es, mein Mann hat es und viele Andere auch. Meine Grossmutter (die Einzige, die ich hatte) war ganz gross darin, uns Enkelkinder dieses einzupflanzen. Für sie war schon Spielen nutzlos, wohl deshalb ging ich nie wirklich gerne zu ihr in die Ferien. Bei ihr lernten wir viel Nützliches wie Häkeln, Nähen und Stricken, was an und für sich ja nicht negativ ist, im Gegenteil. Das taten wir zuhause dann auch, aber nie mit diesem unterschwelligen „nützlich“.

Heute bin ich soweit, dass ich das Teufelchen auf meiner Schulter meist zum Schweigen bringen kann, und wenn es dann so schön schweigsam und ergeben da sitzt, kommt sicher mein Mann mit einem Satz daher, der etwa beginnt mit „Eigentlich sollten wir mal/endlich/doch noch……“

Wenn ich so herumschaue, sehe ich viele sehr umtriebige Leute, selbst bei denen, die ja eigentlich in den Ferien (deutschdeutsch: Urlaub) und zum Teil monatelang auf ihrem Boot unterwegs sind. Viele spulen unheimlich viele Kilometer ab, besuchen jede Stadt, alle Museen, jedes alte Waschhaus, alles, was wie eine Kirche aussieht, jagen auf jeden Aussichtspunkt und klappern alles was in den Führeren steht, ab. Wir hingegen tun, was man tun muss; gehen mit den Hunden, kochen, waschen, putzen, lesen, schauen einen Film, sitzen plaudernd auf dem Deck, schreiben oder basteln etwas, werkeln am Boot, das alles, jajaja. Aber sonst haben wir ein brutal abgespecktes Programm, raffen uns alle paar Tage auf, um mal eine Runde im Städtchen zu drehen, um doch noch einen Blick auf ein bekanntes Bauwerk zu werfen, und schälen uns morgens früh (früh für uns!) aus dem Bett um zu angenehmen Temperaturen auf dem Stadtplatz un café au lait et un croissant zu geniessen (meist erst am Tag bevor wir weiterfahren wollen)…. und eben, wir haben ein schlechtes Gewissen.

Unsere Tage sind gefüllt mit Unnützlichem. Langweilig ist es uns nie, aber das Teufelchen sagt: “ du bist jetzt in Frankreich, du musst alles anschauen gehen, du musst die lokalen Spezialitäten versuchen, du musst reisen, dich bewegen, es gibt noch viel zu sehen, allez hopp, nutze deine Zeit!

Heute früh sinnierten wir über einem café au lait an Bord darüber nach, weshalb wir diesen Druck, unbedingt sight seeing machen zu müssen, nicht verspüren. Vielleicht weil wir eben gerade nicht im Urlaub sind, sondern hier wohnen, weil wir viel Zeit haben, wir das Gefühl haben, jederzeit wieder zurückkommen zu können?

In diesem Zusammenhang fällt mir ein, dass wir damals im Asien, im Tessin, in der Romandie, diesen Druck ebenfalls nicht verspürt hatten. Oft besuchten wir ein Highlight der Gegend erst mit Freunden, die auf Besuch bei uns waren! Dabei hatten wir jeden Tag aus vollen Zügen genossen, die besondere Atmosphäre, die Aussicht auf den See, der prasselnde Monsunregen, das ungewohnte Glockengeläut der nahen Kirche, das unverständliche Javanisch aus der Küche, und heute sind es einfach das Blubbern der Wasserkühlung eines vorbeifahrenden Bootes, der Duft der Boulangerie nebenan, die französischen Sprachfetzen vom Park her, das Spiegeln des Sonnenlichts an der Decke.

Also nichts Neues unter der Sonne, wir tickten schon immer so. Teufelchen, du mögest jetzt schweigen!

Autor: suzyintheflow

Of Swiss origin, living in France on a houseboat with husband and two dogs. Intends to travel all over the navigable waterways of Europe in the years to come. No specific plans but open to any adventure and curious about the people and the places waiting to be met!

Ein Gedanke zu „Das schlechte Gewissen“

  1. Comme il s’accroche bien, ce petit diable… Le nombre de fois où j’ai dû me persuader que je pourrais aussi faire certaines tâches ennuyeuses le lendemain, ou même plus tard, et que ça ne me rendrait pas „coupable“ !
    Savez-vous déjà où vous serez fin juillet ? Bises et beau dimanche, Josiane

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